Vom Goldenen Schnitt hast du sicherlich schon gehört, aber was weißt du darüber? Kannst du ihn definieren oder berechnen? Erkennst du ihn in Fotos oder Logos? Nutzt du den goldenen Schnitt im Webdesign oder im Marketing? Warum denkst du, ist er so beliebt?
Genau genommen beschreibt der goldene Schnitt ja nur ein bestimmtes Seitenverhältnis, was an sich noch nicht wirklich außergewöhnlich ist. Aus der Fotografie kennen wir das 3:2- bzw. 4:3-Format, von Bildschirmen das 16:9-Format. Wozu brauchen wir also noch ein weiteres? Gibt es DAS perfekte Seitenverhältnis überhaupt? Die Praxis sagt nein, denn es findet sich kaum eine Konstante bei Bildern, Videos oder Logos.
Dennoch halte ich es für sinnvoll, den goldenen Schnitt zu kennen und sein Potenzial zu verstehen.
Deshalb auch dieser Artikel... :-)
Der Goldene Schnitt im Überblick
- Der Goldene Schnitt ist eine seit der Antike bekannte Gestaltungsregel, die das Verhältnis von zwei Teilen einer bestimmten Strecke zueinander beschreibt. Das Besondere dabei ist, dass die zwei Teile das gleiche Verhältnis zueinander haben wie die größere Teilstrecke zur Gesamtstrecke. In der Mathematik wird der Goldene Schnitt mit der Formel (a+b)/a = a/b berechnet (siehe Bild 1).
- Der Goldene Schnitt beschreibt immer das Verhältnis einer Fibonacci-Zahl zu der vorhergehenden bzw. nachfolgenden. Die Fibonacci-Zahlen sind eine Folge von Zahlen, die jeweils die Summe der zwei vorhergehenden Zahlen bilden. Die Folge beginnt mit 0 und setzt sich fort mit 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw.
- Die Zahlen stehen im gleichen Verhältnis zueinander. Der größere Teil ist 1,62-fach so groß wie der kleinere Teil. Die gesamte Strecke ist 1,62-fach so groß wie der größere Teil.
- Legen wir Quadrate in diesen Größen aneinander und zeichnen den jeweiligen Radius ein, so erhalten wir die sogenannte goldene Spirale. Sie dient in der Kunst, Architektur, Fotografie und anderen Bereichen als Maß zur Definition harmonischer Proportionen (siehe Bild 3).
- Das Verhältnis des Goldenen Schnittes finden wir auch in der Natur wieder. Sogar die Anordnung bekannter Bauwerke wie beispielsweise die Pyramiden von Gizeh oder die Anordnung der Blütenblätter einer Sonnenblume folgen der Regel des Goldenen Schnitts.
Einen visuellen Überblick bietet dir die Infografik am Ende dieses Artikels!
Was ist der Goldene Schnitt und wie wird er berechnet?
Der Goldene Schnitt beschreibt ein mathematisches Teilungs- oder Proportionsverhältnis von zwei Längen. Wir sprechen vom Goldenen Schnitt, wenn die längere Teilstrecke ab im selben Verhältnis zur kürzeren Strecke bc steht wie die Gesamtstrecke ac zu ab. Oder um es mathematischer auszudrücken, kannst du ihn mit folgender Formel berechnen:
Diese Proportionen empfinden Menschen als besonders harmonisch, daher wird sie gerne bei der grafischen Gestaltung von Visual Content verwendet. Die Proportionen des Goldenen Schnitts finden sich auch beispielsweise in der Natur wieder: Die Anordnung von Blütenblättern bestimmter Pflanzen folgen den Regeln des Goldenen Schnitts ebenso wie die Anordnung der Samenkerne einer Sonnenblume.
In Zusammenhang mit Phi steht die sogenannte Fibonacci-Folge – eine unendliche Folge natürlicher Zahlen, beginnend mit 0 und 1. Die darauffolgenden Zahlen entsprechen immer der Summe der beiden vorhergehenden Zahlen, also 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8 usw. Der Quotient zweier aufeinanderfolgender Zahlen (z.B. 21:13=1,61) entspricht dem Verhältnis des goldenen Schnitts – auch "göttliche Proportionen" bzw. proportio divina genannt. Je größer die Summe in der Fibonacci-Folge, desto genauer nähert sich das Verhältnis der aufeinanderfolgenden Zahlen der Zahl Phi an.
Benannt ist die Folge übrigens nach Leonardo Fibonacci, der damit im Jahr 1202 das Wachstum einer Kaninchenpopulation beschrieb.
Mithilfe der Fibonacci-Reihe können wir übrigens die "goldene Spirale" umgekehrt gestalten. Dazu legen wir entsprechende Quadrate wie im folgenden Bild zu sehen aneinander um zeichnen jeweils einen fortgesetzten Viertelkreis ein. Eigentlich wird die goldene Spirale aus einem Rechteck im goldenen Schnitt konstruiert, indem es in ein Quadrat und ein kleines goldenes Rechteck geteilt wird, das wiederum gleichermaßen geteilt werden kann. Dieser Prozess lässt sich theoretisch unendlich fortsetzen.
Alte und neue Anwendungsbereiche für den Goldenen Schnitt
Der Goldene Schnitt kann unter vielen Aspekten betrachtet werden: Mathematisch, kunsthistorisch und sogar esoterisch. Viel interessanter sind meiner Meinung nach jedoch die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten und Anwendungsbereiche ...
Der Goldene Schnitt in der Kunst und Architektur
Im Jahr 1490 entstand eine der bekanntesten Illustrationen von Leonardo da Vinci: der „vitruvianische Mensch“ (siehe Bild unten). Das Verhältnis zwischen dem Radius des Kreises und der Seitenlänge des Quadrates entspricht beinah den Verhältnissen des Goldenen Schnitts – deswegen wird sie auch als „Darstellung des Menschen im Goldenen Schnitt“ bezeichnet.
Hierfür ließ sich da Vinci vom Mathematiker Luca Pacioli inspirieren, der im Jahr 1509 eine Abhandlung über den Goldenen Schnitt schrieb. Die mathematischen Prinzipien des Goldenen Schnitts waren Parioli und vielen anderen Denkern schon seit der Antike bekannt. Die erste erhalten gebliebene Beschreibung des Begriffs wurde im zweiten Buch der Elemente des Euklid (um 300 v. Chr.) gefunden.
Der (Spitz)Name Vitruv ursprünglich von einem anderen Mann getragen: Marcus Vitruvius Pollio. Er war ein römischer Architekt und lebte im ersten Jahrhundert vor Christus. Er war der erste, der den Begriff des Nutzererlebnisses – heute besser bekannt als "User Experience" – prägte. Der Begriff stammt aus dem ersten seiner insgesamt 10 Bücher über die Prinzipien der Architektur. Das Nutzererlebnis spielt beim Content Design eine entscheidende Rolle, wie du in Ben und meinem gleichnamigen Buch nachlesen kannst. :-)
Und schau doch beim nächsten Besuch im Museum einfach mal genauer hin: viele Gemälde berühmter Künstler sind nach den göttlichen Proportionen geteilt, zum Beispiel die des italienischen Meisters Raffael oder des deutschen Albrecht Dürer.
Abgesehen davon finden wir den goldenen Schnitt auch in alten Tempelbauten der Antike wieder. Die Cheops-Pyramide zum Beispiel, die zwischen 2590-2470 v. Chr. (!) erbaut wurde, gilt nach heutigen Maßstäben als perfekt proportioniert. Auch der Tempel Parthenon in Athen (siehe Video), der etwa 450 v.Chr. erbaut wurde, spiegelt die Proportionen in erstaunlicher Präzision wider. Das Verhältnis des Überbaus zum Unterbau wurde anhand der Regeln des Goldenen Schnitts erbaut.
Aber wir müssen gar nicht so weit reisen: der Kölner Dom beispielsweise wurde auch nach diesen Proportionen erbaut.
Der Goldene Schnitt in der Fotografie
In der Fotografie kannst du den Goldenen Schnitt als Hilfsmittel einsetzen, um einen harmonischen Bildaufbau zu erzielen. Die Ausrichtung des Motivs erfolgt anhand der Schnittpunkte und Linien. Du kannst den Horizont beispielsweise auf eine der beiden waagerechten Linien legen, während du ein weiteres Motiv im Vordergrund anhand der Senkrechten ausrichtest.
Dafür wird ein Foto – entweder schon vor dem Schuss oder eben bei der Bearbeitung – mit zwei waagerechten und zwei senkrechten Linien im Verhältnis des Goldenen Schnitts in neun Felder aufgeteilt. Dadurch entsteht das sogenannte Phi Grid, anhand dessen Linien du wichtige Bildelemente ausrichten kannst.
Dieses Raster eignet sich allerdings nicht für jedes Motiv. Besonders gut funktioniert es,
- um eine grundlegende visuelle Harmonie zu erzeugen,
- um asymmetrische Bilder (unterbewusst) in individuelle Sektionen zu teilen und
- wo eher am Rand liegende Elemente stärker gewichtet werden sollen.
Als einfacher zu handhabende Alternative ist aus dem Phi Grid das Drittel-Raster entstanden. Es teilt ein Bild in neun gleichgroße Felder und ist sowohl in den meisten Kameras als auch in Bildbearbeitungssoftware wie Adobe Photoshop integriert.
Wann du welches Raster nutzt, bleibt dir überlassen; es gibt kein richtig oder falsch. Wichtiger ist, dass du verstehst, wie die beiden deine Arbeit beeinflussen.
Ich nutze aus Bequemlichkeit das Drittel-Raster vor allem bei Snapshots mit meinem Smartphone, insbesondere bei Portraits. Das Phi Grid kommt bei mir dann zum Einsatz, wenn ich akkurat arbeiten will (das betrifft vor allem Webdesign, aber dazu gleich mehr) und Fotos, die ich nachbearbeite.
Tolle Beispiele für die Anwendung des Phi Grids, des Drittel-Rasters sowie der Fibonacci-Spirale in der Fotografie habe ich bei PicMonkey (du erinnerst dich an meine Tool Tipps?), Make use of und im Video von Canon gefunden:
Der Goldene Schnitt im Web- & Corporate Design
Neben der Kunst und Fotografie gibt es auch zahlreiche Beispiele von Corporate Designs, die auf dem Goldenen Schnitt oder auf den Fibonacci-Zahlen basieren. Allen voran sind es Prospekte oder Anzeigenmotive, die mithilfe dieser Gestaltungsraster proportioniert werden, aber auch einige Logos gewinnen dadurch an Harmonie. Hier ein paar Beispiele:
Quelle: DFG Corporate Design Handbuch
Ebenso wirken Webseiten umso harmonischer, je intensiver sie Gebrauch der goldenen Proportion machen. Viele Systeme und Templates basieren auf Grid-Systemen, deren Teile alle gleich groß sind – insbesondere die Dreiteilung hat sich bewährt (also 3, 6, 9, 12 ...). Näher kommen wir dem goldenen Schnitt allerdings mit einem 5:3 Seitenverhältnis, etwa in Bezug auf die Sidebar und der Hauptbereich. Es sprich aber eigentlich nichts dagegen, es ganz genau zu nehmen:
Doch nicht nur das Layout kann nach diesem Verhältnis gestaltet werden. Auch Text können wir in Hinblick auf Schriftgröße, Zeilenabstände oder Blockbreiten aufeinander abstimmen. Die Zahl 1.618 kann wahre Wunder bewirken, probier es einfach mal aus! Wer weiß, vielleicht hast du den Goldenen Schnitt ja schon ganz intuitiv für deine visuelle Kommunikation verwendet?
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Content Design (2. Auflage)
Robert Weller, Ben Harmanus
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Robert ist Autor des Bestsellers „Content Design“ (Hanser Verlag), unabhängiger Content-Stratege und Gründer dieses Magazins (ehem. „toushenne.de“). Daneben lehrt er Content-Marketing an der FH JOANNEUM sowie Content Design an der ZHAW. Mit über zehn Jahren Erfahrung aus dem Agenturgeschäft, E-Commerce- & SaaS-Unternehmen sowie zahlreichen Freelance-Projekten mit führenden Marken wie Adobe, Bike24 und contentbird, entwickelt er wirksame Strategien für die Optimierung des Content ROI.